Hyperfokus und Streufokus bei ADHS steuern: 8 Punkte wie du gehirngerecht Konzentration und Kreativität steuern kannst
Jede Person kennt das Gefühl, so tief in eine Aufgabe vertieft zu sein, dass die Zeit wie im Flug vergeht. Dieser Zustand wird oft als „Hyperfokus“ bezeichnet – ein Zustand intensiver Konzentration, der bei vielen Menschen mit ADHS auftritt.
Doch ebenso gut gibt es das Gegenteil: eine gedankliche Zerstreutheit, in der die Gedanken ziellos schweifen und kreative Ideen aufkommen. Diese beiden Zustände, Hyperfokus und „Streufokus“, haben eine biologische Grundlage im Gehirn. Dieser Artikel erklärt, wie das „Default Mode Network“ (DMN) – zuständig für den „Streufokus“ – und das „Task Positive Network“ (TPN) – zuständig für den Hyperfokus – zusammenwirken und was das für Menschen mit ADHS bedeutet.
Die Gehirnnetzwerke hinter Konzentration und Kreativität: Default Mode Network (DMN) und Task Positive Network (TPN)
Unser Gehirn ist ein komplexes System, das über verschiedene Netzwerke verfügt, die in unterschiedlichen Situationen aktiv sind. Besonders relevant sind das Default Mode Network (DMN), welches bei Ruhephasen und Tagträumen aktiv ist, und das Task Positive Network (TPN), das fokussierte Aufmerksamkeit unterstützt. Diese Netzwerke arbeiten meist gegensätzlich (entweder ist das eine aktiv oder das andere) und beeinflussen, wie gut wir uns konzentrieren können und wie kreativ wir sind (Buckner & Andrews-Hanna, 2008).
Streufokus – Default Mode Network (DMN)
Erwachsene mit ADHS zeigen eine erhöhte Variabilität im Default Mode Network (DMN) – dem Teil des Gehirns, der aktiv wird, wenn wir nicht auf eine Aufgabe fokussiert sind. Diese erhöhte Aktivität im DMN scheint ihre Leistung bei Aufgaben, die Konzentration und Entscheidungen erfordern, negativ zu beeinflussen. Die Medikation mit Methylphenidat konnte diese Schwankungen im DMN jedoch nicht ausreichend verringern. (Mowinckel et al., 2017).
Die Studie zeigt ebenso, dass bei Erwachsenen mit ADHS das DMN während kognitiven Aufgaben instabiler und weniger unterdrückt ist als bei Personen ohne ADHS. Diese instabile DMN-Aktivität kann die Aufmerksamkeit auf die eigentliche Aufgabe beeinträchtigen. Die Ergebnisse unterstützen die Hypothese, dass Schwierigkeiten bei der Unterdrückung des DMN eine zentrale Rolle in der ADHS-Symptomatik spielen. (Mowinckel et al., 2017).
Doch bei ADHS gilt: Kein Schaden ohne Nutzen!
Diese Tendenz (unabsichtlich), in den Streufokus zu wechseln, kann für Menschen mit ADHS sowohl Stärke als auch Herausforderung sein. Studien zeigen, dass ADHS-Betroffene in kreativen Aufgaben oft besser abschneiden, da sie spontanere und unkonventionellere Assoziationen bilden (White & Shah, 2006).
Ein weiterer Vorteil ist ein häufigeres Auftreten des Zygarnik-Effekts und somit mehr kreative Problemlösung. Das DMN bearbeitet im Hintergrund ungelöste Probleme, was als Zygarnik-Effekt bekannt ist. Dadurch kann es zu „Aha“-Momenten kommen, in denen eine Lösung plötzlich ins Bewusstsein tritt (Klinger, 2009).
Task Positive Network (TPN)
Das TPN unterstützt fokussierte Aufmerksamkeit und ist für den Zustand des Hyperfokus verantwortlich. Das TPN ist aktiv, wenn wir uns konzentrieren und den Fokus voll auf eine Sache lenken.
Normalerweise „schaltet“ das Gehirn zwischen diesen Netzwerken hin und her, je nachdem, ob wir konzentriert arbeiten oder abschweifen. Bei Menschen mit ADHS kann man nachweisen, dass diese Netzwerke weniger stark voneinander getrennt sind. Das macht es schwer, bei einer Aufgabe aufmerksam zu bleiben. Diese mangelnde Trennung wird mit steigendem Lebensalter schwächer. Man könnte sagen, dass vor allem Kinder mit ADHS in diesem Zusammenhang einen „Aufmerksamkeits-Entwicklungsrückstand“ haben. (Mills et al., 2017). Deswegen sind hier die Symptome oft besonders deutlich.
Bei Erwachsenen mit ADHS sieht man es ähnlich: Auch hier springt das Gehirn stärker zwischen den verschiedenen Zuständen, was die Konzentration auf Aufgaben erschwert und zu schwächeren Leistungen führt. (Mills et al., 2017).
Der Schlüssel liegt als in der Steuerung der beiden Netzwerke.
Deep Dive: Rolle des DNM bei unterschiedlichen psychischen Erkrankungen
Menschen mit Angststörungen, ADHS und Zwangsstörungen (OCD) zeigen Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Aktivität des Default Mode Network (DMN).
Gemeinsamkeiten und Unterschiede im DMN
Bei allen drei Störungen – Angst, ADHS und OCD – ist das DMN häufig stärker aktiv, was dazu führen kann, dass Betroffene in Gedanken „festhängen“. Dies hat folgende Auswirkungen:
- Bei Angststörungen: Die erhöhte DMN-Aktivität verstärkt Grübeleien und Selbstzweifel, was oft dazu führt, dass Menschen gedanklich immer wieder um Ängste kreisen. Im Alltag äußert sich das zum Beispiel darin, dass man sich ständig Sorgen macht und sich in „Was-wäre-wenn“-Szenarien verliert. Betroffen sind hier vor allem die Bereiche des medialen präfrontalen Kortex (MPFC) und des posterioren zingulären Kortex (PCC), die für die emotionale Verarbeitung wichtig sind (Zhao et al., 2007).
- Bei ADHS: Das DMN wird oft dann aktiv, wenn eigentlich Konzentration gefragt ist. Besonders betroffen ist der linke vordere Stirnlappen, der für Impulskontrolle und Planung zuständig ist. Im Alltag führt dies dazu, dass Betroffene sich schnell ablenken lassen, impulsiv handeln und Aufgaben oft nicht zu Ende bringen. Dies macht es schwierig, strukturiert zu arbeiten oder sich länger mit einer Sache zu beschäftigen (Norman et al., 2017)
- Bei OCD: Das DMN fördert die Neigung zu zwanghaften Gedanken und Selbstzweifeln. Bei Menschen mit OCD ist vor allem der anteriore zinguläre Kortex (ACC) betroffen, der wichtig für das Erkennen von Fehlern ist. Dadurch geraten Betroffene in gedankliche Schleifen, in denen sie sich immer wieder fragen, ob alles richtig gemacht wurde. Dies führt oft zu wiederholtem Überprüfen und dem Drang, alles perfekt zu machen – zum Beispiel mehrfaches Kontrollieren, ob die Tür wirklich abgeschlossen ist. (Beucke et al., 2014).
Alltägliche Auswirkungen der DMN-Aktivität bei unterschiedlichen „Störungen“
Zusammengefasst zeigt die erhöhte Aktivität im DMN folgende Alltagsauswirkungen:
- Ablenkbarkeit bei ADHS: Betroffene lassen sich leicht ablenken und verlieren den Fokus, was besonders bei Aufgaben, die Konzentration erfordern, eine Herausforderung ist.
- Grübeln bei Angststörungen: Menschen mit Angststörungen neigen dazu, sich in Sorgen und negativen Gedanken zu verfangen.
- Perfektionismus bei OCD: OCD-Betroffene haben oft den Drang, Dinge immer wieder zu überprüfen und streben nach Perfektion, was sehr zeitaufwendig und belastend sein kann.
Obwohl ADHS, Angststörungen und OCD unterschiedliche Symptome haben, teilen sie die erhöhte DMN-Aktivität. Das DMN sorgt bei diesen Störungen dafür, dass Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Gedanken zu kontrollieren und auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Die spezifischen Gehirnbereiche – ob MPFC, PCC, Stirnlappen oder ACC – beeinflussen, wie diese Gedankenmuster sich im Alltag zeigen, von Ablenkbarkeit über Sorgen bis hin zu zwanghaftem Verhalten.
Der Schlüssel: Die Balance zwischen Hyperfokus und Streufokus finden
Hyperfokus ist also der Zustand intensiver Konzentration, in dem das TPN dominiert. Das Gehirn blendet äußere Ablenkungen nahezu vollständig aus, was besonders bei emotional relevanten oder hochinteressanten Aufgaben verstärkt auftritt (Duffy et al., 2021). Die Kunst liegt also im Erlernen und Anwenden von Techniken, die das TPN gezielt aktivieren und das DMN für kreative Pausen nutzen (Elton & Gao, 2015).
Praktische Tools zur TPN Steuerung (Hypoerfokus!) für Menschen mit ADHS
- Plane gezielte Streufokus-Zeiten für kreative Erholung ein: Aktivitäten wie kurze Spaziergänge, leichte Hausarbeiten oder entspannende Pausen ohne digitale Geräte fördern das DMN und schaffen Raum für neue Ideen. Diese „DMN-Pausen“ können helfen, kreative Blockaden zu lösen und das Gehirn für den nächsten Hyperfokus-Zyklus vorzubereiten (Elton & Gao, 2015).
- Strukturiere den Tag in Hyperfokus- und Streufokus-Phasen: Setze dir klare Zeitblöcke, in denen du Hyperfokus für anspruchsvolle Aufgaben und Streufokus für kreative Planung nutzen kannst. Für Menschen mit ADHS ist klassische Pomodoro-Technik (25-minütige Fokuseinheiten mit kurzen Pausen) oft zu kurz, wenn man gerade in den Hyperfokus gekommen ist.
Besser sind oft 45 Minuten Fokus, 5 Minuten Pause und dann wieder 45 Minuten Fokus. - Nutze Achtsamkeitsübungen zur bewussten Netzwerksteuerung: Meditation und Atemübungen helfen, den Wechsel zwischen TPN (oder CEN, das Central Executive Network, ein Teil des TPN und direkt Verbunden mit den exekutiven Funktionen) und DMN gezielt zu fördern. Schon wenige Minuten täglicher Achtsamkeitspraxis können das Bewusstsein schärfen und unterstützen dabei, den Fokus bewusst umzuschalten, wenn Hyperfokus oder Streufokus benötigt werden (Bauer et al., 2019). Mehr zum Nutzen von Meditation gibts auch hier im Artikel über 2 Fixes bei ADHS (inkl. Gutschein für eine Meditationsapp!)
- Einsatz visueller Erinnerungen zur TPN-Aktivierung: Post-its mit klaren Aufgaben oder visuelle Symbole an deinem Arbeitsplatz können das TPN stimulieren und helfen, den Fokus schnell zurück auf das Wesentliche zu lenken, wenn die Gedanken abschweifen. Der visuelle Reiz sorgt für eine gezielte Reaktivierung des TPN und hilft dabei, Ablenkungen zu minimieren. (Landsiedel & Gilbert, 2015).
- Experimentiere mit körperlicher Bewegung für Netzwerkwechsel: Ein kurzer Sprint, eine Runde Dehnen oder einfach nur ein Standortwechsel im Raum kann den Wechsel zwischen TPN und DMN unterstützen. Bewegung setzt Dopamin frei, was bei ADHS besonders förderlich ist, um zwischen Fokussierungs- und kreativen Entspannungsphasen zu wechseln (Duffy et al., 2021).
- Führe ein Hyperfokus-Protokoll: Halte fest, welche Situationen oder Tageszeiten besonders gut für Hyperfokus-Phasen geeignet sind. Finde heraus, bei welchen Aufgaben du besonders fokussiert arbeitest und welche Tätigkeiten dir den Raum für DMN-orientierte, kreative Pausen geben. So entwickelst du einen Rhythmus, der die Produktivität steigert und den Netzwerkwechsel bewusst gestaltet.
- Setze gezielte Zeitlimits für den Hyperfokus: Menschen mit ADHS neigen dazu, im Hyperfokus wichtige Pausen zu vergessen. Setze Timer oder nutze Apps, die dich daran erinnern, alle 45 oder spätestens alle 90 Minuten eine (Streufokus-)Pause einzulegen. Dieser Ansatz verhindert Erschöpfung und stellt sicher, dass das Gehirn flexibel zwischen beiden Netzwerken wechseln kann. Vorallem wichtig hinsichtlich Nährstoffversorgung und anderen biologischen Bedürfnissen. 😉
- Nutze Routinen zur Stärkung des TPN: Regelmäßige, automatisierte Abläufe wie ein Morgen- oder Abendritual können das TPN stärken und helfen, den Tag strukturiert zu beginnen und abzuschließen. Dadurch trainierst du das Gehirn, in bestimmten Momenten den TPN zu aktivieren und Routineaufgaben leichter zu bewältigen. Eine Studie dazu bezieht sich zwar auf ein Elterntraining dessen Kern die Etablierung von Routinen für Kinder ist, aber ich glaube fest, dass das auch auf uns Erwachsene übertragbar ist. (Frisch et al., 2023). Nachdem viele Erwachsene mit ADHS Kinder haben – hier ein kurzer Artikel, der die Schritte des Elterntrainings aufzeigt.
Fazit: Den Hyperfokus bei ADHS gezielt stärken und anwenden lernen
Das Verständnis der DMN- und TPN-Netzwerke hilft, ADHS-spezifische Konzentrationsprobleme besser zu verstehen. Mit gezielten Techniken können Menschen mit ADHS die Vorteile beider Zustände nutzen und ihre Produktivität steigern.