Neurodiversität: Die vergessene Dimension in der Diversity & Inklusion Diskussion


Diversity-Initiativen konzentrieren sich häufig auf Aspekte wie Geschlecht, Herkunft oder körperliche Einschränkungen. Aber was ist mit der Vielfalt im Denken? Die sogenannte Neurodiversität umfasst Unterschiede in der Gehirnfunktion, darunter ADHS, Autismus, Dyslexie oder Tourette-Syndrom.

Statt diese Unterschiede als Schwächen zu betrachten, wird immer deutlicher, dass sie eine Chance für Unternehmen sind. Menschen mit neurodivergenten Merkmalen bringen einzigartige Perspektiven, Problemlösungsansätze und Kompetenzen mit – insbesondere in dynamischen, kreativen oder datenintensiven Arbeitsfeldern.


ADHS am Arbeitsplatz: Herausforderung oder Stärke?

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung, die oft durch Symptome wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität gekennzeichnet ist. Was zunächst wie ein Nachteil erscheint, birgt in der Arbeitswelt enormes Potenzial:

Neurodiversität am Arbeitsplatz

Typische Stärken von Menschen mit ADHS:

  1. Hohe Kreativität: Studien zeigen, dass Menschen mit ADHS besonders gut darin sind, neue Ideen zu entwickeln und innovative Ansätze zu finden (White & Shah, 2011).
  2. Hyperfokus: Obwohl oft von Konzentrationsproblemen die Rede ist, können Menschen mit ADHS bei Themen, die sie interessieren, in einen intensiven „Flow-Zustand“ geraten, in dem sie außergewöhnlich produktiv arbeiten.
  3. Schnelle Problemlösungsfähigkeiten: Die Fähigkeit, in stressigen oder chaotischen Situationen schnelle Entscheidungen zu treffen, ist in vielen Berufen ein Vorteil.
  4. Energie und Begeisterung: Menschen mit ADHS bringen oft eine dynamische und motivierende Energie ins Team.

Wir haben bereits einmal einen Artikel über 13 wissenschaftlich belegte Stärken von Menschen mit ADHS hier geschrieben.

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Eine Meta-Analyse von Sedgwick et al. (2019) bestätigt, dass Menschen mit ADHS in kreativen und dynamischen Umgebungen überdurchschnittliche Leistungen erbringen können, insbesondere dort, wo unkonventionelles Denken gefragt ist.


Wie Unternehmen von ADHS profitieren können

1. Angepasste Arbeitsbedingungen

Menschen mit ADHS arbeiten oft am besten in Umgebungen, die:

  • Flexibilität bieten, z. B. Gleitzeit oder Homeoffice.
  • Strukturierte Aufgaben mit klaren Deadlines beinhalten.
  • Ablenkungsfreie Zonen schaffen, um störende Reize zu minimieren.

Im Detail haben wir auch darüber schon geschrieben – zum Beispiel hier.

ADHS am Arbeitsplatz - 4 Tipps für mehr Effizienz

2. Fokus auf Stärken statt Schwächen

Führungskräfte sollten die individuellen Stärken ihrer Mitarbeitenden erkennen und gezielt fördern. Ein Mensch mit ADHS, der in einem monotonen Bürojob vielleicht unterfordert ist, kann in kreativen oder dynamischen Teams überdurchschnittlich performen.

3. Unterstützung durch Technologien

Digitale Tools wie Projektmanagement-Software (z. B. Trello, Asana) oder Apps zur Zeitplanung (wie Focusmate) können Menschen mit ADHS dabei helfen, ihre Aufgaben zu priorisieren und zu organisieren.

Auch ChatGPT kann als Body Double für Menschen mit ADHS fungieren.

4. Mentoring-Programme und Coaching

Der Austausch mit erfahrenen Mentor:innen oder professionellen Coaches kann helfen, persönliche Herausforderungen zu bewältigen und Stärken strategisch einzusetzen.


Erfolgreiche Beispiele für ADHS-Inklusion

Microsoft: Inclusion as a Strength

Microsoft hat spezielle Programme entwickelt, um neurodivergente Talente gezielt einzubinden und ihre einzigartigen Fähigkeiten in kreativen und dynamischen Projekten zu nutzen. Ein Beispiel hierfür ist der Bereich Videospielentwicklung, wo Menschen mit ADHS erfolgreich eingesetzt wurden. Ihre Fähigkeit zu Hyperfokus und innovativem Denken brachte messbare Ergebnisse. Laut einem Artikel von Microsoft aus dem Jahr 2024 ermöglicht die Förderung neurodivergenter Perspektiven nicht nur die Entwicklung besserer Produkte, sondern auch einen deutlichen Innovationsschub. MVPs wie Bram van den Klinkenberg betonen, dass eine inklusive Unternehmenskultur, die Unterschiede wertschätzt, die Grundlage für diese Erfolge bildet (Sonnenberg, 2024).

Ernst & Young: Das Neuro-Diverse Center of Excellence (NCoE)

Ernst & Young (EY) hat mit dem Neuro-Diverse Center of Excellence (NCoE) ein Vorzeigeprojekt ins Leben gerufen, das gezielt neurodivergente Talente – darunter Menschen mit ADHS, Autismus und anderen neurodivergenten Merkmalen – in datenintensiven und analytischen Projekten einsetzt. Die Initiative wurde erstmals in den USA eingeführt und ist mittlerweile auch in anderen Ländern, wie Großbritannien und Kanada, etabliert.

Menschen mit ADHS profitieren von Aufgaben, die ihre besonderen Stärken wie Hyperfokus, Problemlösungskompetenzen und unkonventionelles Denken erfordern. Laut EY zeigt eine interne Analyse, dass Teams mit neurodivergenten Mitgliedern bei Projekten in Bereichen wie Prozessoptimierung, Cybersicherheit und Datenanalyse signifikant bessere Ergebnisse erzielten als rein neurotypische Gruppen. Besonders beeindruckend ist der Beitrag dieser Teams zur Fehlerreduktion und Innovationsförderung in komplexen Arbeitsfeldern.

Carmine Di Sibio, der CEO von EY, betont in einer Pressemitteilung: „Unsere Neuro-Diverse Centers of Excellence demonstrieren eindrucksvoll, wie unterschiedlich denkende Menschen uns helfen können, bessere und innovativere Lösungen für unsere Kunden zu entwickeln.“ Dieses Modell wird zunehmend als Beispiel für erfolgreiche Inklusion und den geschäftlichen Mehrwert von Neurodiversität angesehen.

Einzelbeispiel aus der Forschung

Der CEO Richard Branson, der selbst ADHS hat, betont regelmäßig, dass seine Fähigkeit, Risiken schnell zu bewerten und kreative Lösungen zu finden, entscheidend für den Aufbau des Virgin-Konzerns war (Branson, 2018).

Die strategischen Vorteile von ADHS im modernen Arbeitsumfeld

In der sich schnell verändernden Arbeitswelt von heute ist die Förderung von Neurodiversität nicht nur ein Akt der Inklusion, sondern auch ein klarer strategischer Vorteil. Besonders bei ADHS werden häufig Eigenschaften wie Kreativität, Innovationsfähigkeit und unkonventionelles Denken betont – genau die Qualitäten, die in diversen Teams entscheidend für Problemlösungen und Fortschritt sind.

Hier sind einige Schlüsselstrategien, wie Organisationen neurodiverse Teams stärken und die Stärken von Menschen mit ADHS optimal nutzen können:

1. Vielfältiges Denken fördern

Schaffen Sie eine Unternehmenskultur, die unterschiedliche Perspektiven schätzt. Ermutigen Sie Teammitglieder dazu, Herausforderungen aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Menschen mit ADHS neigen dazu, Probleme unkonventionell anzugehen – geben Sie ihnen die Möglichkeit, ihre Ideen zu präsentieren und anzuwenden.

2. Kreativität nutzen

Menschen mit ADHS besitzen häufig eine natürliche Neigung zur Kreativität und Improvisation. Setzen Sie sie in kreativen Prozessen wie Brainstorming, Innovations-Workshops oder Problemlösungsübungen ein, um ihre besonderen Fähigkeiten zu nutzen.

3. Hyperfokus unterstützen

Während ADHS oft mit Konzentrationsproblemen in Verbindung gebracht wird, verfügen Betroffene auch über die Fähigkeit des Hyperfokus. Wenn sie sich für ein Thema begeistern, können sie unglaublich produktiv und zielstrebig arbeiten. Unternehmen können diese Stärke fördern, indem sie Aufgaben entsprechend den Interessen und Leidenschaften der Mitarbeitenden gestalten.


Herausforderungen und Lösungen

Obwohl ADHS Stärken mit sich bringt, gibt es auch Herausforderungen:

  1. Ablenkbarkeit: Offene Bürolandschaften können für Menschen mit ADHS schwierig sein.
    Lösung: Abgeschirmte Arbeitsplätze oder Homeoffice-Optionen.
  2. Zeitmanagement: Aufgaben werden oft aufgeschoben oder nicht abgeschlossen.
    Lösung: Regelmäßige Check-ins und unterstützende Technologien wie digitale To-Do-Listen; engmaschige Führung.
  3. Stigmatisierung: Viele Menschen mit ADHS scheuen sich, ihre Diagnose offenzulegen.
    Lösung: Sensibilisierungskampagnen und ein inklusives Arbeitsumfeld, das neurodivergente Merkmale normalisiert.

Warum ADHS ein Wettbewerbsvorteil sein kann

Eine Studie der University of Michigan (2018) zeigt, dass Erwachsene mit ADHS oft weniger durch konventionelle Denkweisen eingeschränkt sind, was ihre Kreativität fördern kann (White, 2018). Eine weitere Untersuchung von Hong und Page (2004) belegt, dass Teams mit einer Vielfalt an Denkansätzen, wie sie bei neurodivergenten Personen häufig vorkommen, oft effektiver bei der Lösung komplexer Probleme sind als homogene Gruppen mit den höchsten individuellen Fähigkeiten (Hong & Page, 2004).

Diese Erkenntnisse legen nahe, dass Mitarbeitende mit ADHS in innovationsgetriebenen Bereichen wie IT, Design und Marketing dazu beitragen können, kreative Lösungen schneller und effektiver zu entwickeln.

Zusätzlich betont Hallowell (2021) in seinem Buch „ADHS einfach erklärt“, dass ADHS-Merkmale wie Risikobereitschaft und Flexibilität besonders in Führungspositionen wertvoll sein können (Hallowell, 2021).

Diese Erkenntnisse unterstreichen, dass neurodivergente Mitarbeitende, insbesondere solche mit ADHS, durch ihre einzigartigen Fähigkeiten und Perspektiven einen bedeutenden Beitrag zur Innovationskraft und Problemlösungsfähigkeit von Teams leisten können.


Wie Unternehmen neurodivergente Teams stärken können

  1. Offene Unternehmenskultur schaffen: Reduzierung von Stigmatisierung und Förderung eines offenen Dialogs über Neurodiversität.
  2. Diversität als KPI etablieren: Unternehmen können messbare Ziele setzen, um neurodivergente Mitarbeitende besser einzubinden.
  3. Zusammenarbeit mit Organisationen: Kooperation mit Netzwerken wie Specialisterne, die auf die Vermittlung neurodivergenter Talente spezialisiert sind.
  4. Regelmäßige Evaluierungen: Unternehmen wie SAP evaluieren kontinuierlich ihre Diversity-Programme, um sicherzustellen, dass neurodivergente Mitarbeitende langfristig profitieren.

Fazit: ADHS als Stärke erkennen

Menschen mit ADHS und andere neurodivergente Talente bereichern Unternehmen durch Kreativität, Dynamik und neue Perspektiven. Der Schlüssel liegt darin, ihre Stärken gezielt zu fördern und die Arbeitsumgebung entsprechend anzupassen.

Es ist Zeit, ADHS nicht länger nur als „Defizit“ zu betrachten, sondern als wichtigen Bestandteil von Neurodiversität. Unternehmen, die diesen Schritt wagen, werden mit innovativeren, produktiveren und widerstandsfähigeren Teams belohnt.

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